Radikalisierung vorbeugen

25.10.2024 | Schweinfurt

Am 14. und 15. Oktober 2024 fand in München der zweitägige Workshop „ReMIND“ statt, organisiert von MIND Prevention und dem Bayerisches Staatsmimisterium für Familie, Arbeit und Soziales. Dieser Workshop richtete sich an Fachkräfte wie Ausbildungsakquisiteur:innen, Jobbegleiter:innen und andere Personen, die im therapeutischen oder beratenden Kontext mit Menschen aus muslimisch und patriarchal geprägten Kulturen arbeiten.

Für das Kolping-Bildungszentrum Schweinfurt nahm die Ausbildungsakquisiteurin Maria Schlei an der Veranstaltung teil. Sie berichtet:

Ziel des Workshops war es, den Teilnehmenden das notwendige psychologische und interkulturelle Know-how zu vermitteln, um die spezifischen Herausforderungen besser zu verstehen. Besonders positiv aufgenommen wurden die Rollenspiele, die von einem professionellen Schauspieler vorgestellt wurden. Diese Rollenspiele zeigten verschiedene Familienszenen, in denen zentrale Konflikte und Dynamiken innerhalb patriarchal geprägter Strukturen anschaulich dargestellt wurden. Viele Teilnehmende waren begeistert von der Möglichkeit, reale Situationen so lebendig und nachvollziehbar zu erleben.

Ein zentrales Thema des ersten Tages war der Unterschied zwischen Individualismus und Kollektivismus. Dabei ging es nicht nur um den Vergleich zwischen westlichen Gesellschaften und muslimisch geprägten Kulturen, sondern auch um die Chancen und Herausforderungen beider Konzepte. Besonders im Fokus stand, wie schwierig es in kollektivistisch geprägten Gesellschaften ist, Individualität auszuleben, da hier oft die Interessen der Gruppe, vor allem der Familie, in vielen Fällen überwiegen. In großen Familien, zumal wenn diese zusammenleben, bleibt wenig Raum für individuelle Entscheidungen und persönliche Freiheit. Gleichzeitig wurde auch die hilfreiche Unterstützung und Stabilität thematisiert, die ein Kollektiv bieten kann. So wurde ein ausgewogenes Bild beider Systeme gezeichnet.

Der Alltag in patriarchal geprägten Gesellschaften

Ein weiterer Schwerpunkt war die patriarchale Erziehung. Hier wurde erläutert, wie tief patriarchale Strukturen in einigen muslimischen Familien verankert sind und welche Auswirkungen dies auf das Verhalten und die Lebensentscheidungen der Familienmitglieder hat. Besonders stark wurde herausgestellt, wie sich patriarchale Erziehung auf das Selbstbewusstsein und die persönliche Entfaltung der Betroffenen auswirken kann.

In patriarchalen Systemen gibt es teilweise wenig Raum für individuelle Wünsche und Bedürfnisse. Das Wohlergehen und die Entscheidungen eines Einzelnen sind dann zweitrangig im Vergleich zu den Bedürfnissen und Werten der Gemeinschaft, insbesondere der Familie; persönliche Freiheiten und Selbstbestimmung werden durch strikte Regeln und Erwartungen der Gemeinschaft eingeschränkt.

Der Alltag wird in patriarchal geprägten Gesellschaften oft durch Regeln bestimmt. Diese Regeln werden selten hinterfragt, da Autoritäten – sei es die Familie, die Ältesten oder Gott – als unantastbar gelten. Patriarchale Regeln und Normen werden häufig religiös begründet, was ihre Autorität noch weiter verstärkt. Dies bedeutet, dass viele dieser Regeln nicht nur als soziale Konventionen, sondern als göttliche Gebote betrachtet werden, was den Druck auf die Individuen, sie zu befolgen, enorm erhöht.

Großer Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen

In einer patriarchalen Gesellschaft hängt die Anerkennung und Zuneigung, die eine Person erfährt, oft davon ab, wie sehr sie sich den Erwartungen und Normen der Gruppe anpasst. Identität und Selbstwertgefühl werden somit stark durch die Zugehörigkeit zur Familie oder Gemeinschaft definiert. Wer sich diesen Normen entzieht oder sie in Frage stellt, riskiert, die Unterstützung der Gemeinschaft zu verlieren.

Der Kontakt zu Menschen außerhalb der eigenen Familie oder Gemeinschaft wird in patriarchal geprägten Gruppen oft misstrauisch beäugt und streng reglementiert. Besonders der Kontakt zwischen den Geschlechtern ist in solchen Gruppen tabuisiert. Vor allem vorehelicher Sex ist ein starkes Tabu und kann in extremen Fällen sogar als Ehrverlust für die gesamte Familie betrachtet werden. Die Ehre der Familie steht hier über dem Individuum, und ein Abweichen von den gesellschaftlichen Erwartungen kann schwerwiegende Konsequenzen haben.

Diese tief verankerten patriarchalen Strukturen beeinflussen somit nicht nur die persönliche Entwicklung, sondern auch das zwischenmenschliche Verhalten in patriarchal geprägten Gemeinschaften.

Radikalisierungsprozesse verstehen und ihnen vorbeugen

Am zweiten Tag lag der Fokus auf dem Radikalisierungsprozess aus psychologischer Sicht. Neben den Fachvorträgen zu Radikalisierung und Prävention wurde der Tag auch durch Rollenspiele bereichert, die wieder sehr anschaulich und übersichtlich gestaltet waren. Die Rollenspiele gaben den Teilnehmenden die Möglichkeit, Situationen aus dem Berufsalltag direkt nachzuspielen und zu analysieren, was ebenfalls auf viel positive Resonanz stieß.

Ein weiterer wesentlicher Punkt war die Prävention und Vorbeugung von Radikalisierung. Es wurden verschiedene Ansätze vorgestellt, wie Fachkräfte frühzeitig erkennen können, ob und wie sich eine Person radikalisiert, und wie man präventiv handeln kann. Der Austausch unter den Teilnehmenden war hierbei besonders wertvoll, um gemeinsam Lösungsansätze für die Praxis zu erarbeiten.

Der Tag endete mit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Hierbei wurden kulturellen Hintergründe von Antisemitismus in muslimischen Gemeinschaften beleuchtet.

Erarbeitung von Handlungsoptionen über Rollenspiele

Der Workshop zeichnete sich durch eine ausgewogene Mischung aus Vorträgen, Diskussionsrunden und Rollenspielen aus. Die Fachvorträge boten uns tiefgehende Einblicke in die psychologischen und kulturellen Hintergründe der Themen. Besonders wertvoll war der Austausch auf Augenhöhe, bei dem wir unsere eigenen Erfahrungen und Fragen einbringen konnten.

Die Rollenspiele boten allen Teilnehmenden die Möglichkeit, reale Situationen aus unserem Arbeitsalltag nachzustellen und gemeinsam mit den anderen Teilnehmenden und den Referent:innen alternative Handlungsoptionen zu entwickeln. Durch die Kleingruppenarbeit wurden praxisnahe Lösungen erarbeitet, die im Berufsalltag unmittelbar angewendet werden können.

Der Workshop „ReMIND“ bot eine wertvolle Gelegenheit, sich intensiv mit den kulturellen und psychologischen Herausforderungen im Umgang mit Menschen aus muslimisch und patriarchal geprägten Kulturen auseinanderzusetzen. Besonders hilfreich waren die Rollenspiele, die theoretische Inhalte greifbar und praxisnah vermittelten. Die gewonnenen Erkenntnisse werden mir in meiner Arbeit als Ausbildungsakquisiteurin helfen, die Bedürfnisse meiner Teilnehmenden besser zu verstehen und sie zielgerichteter unterstützen zu können.

Insgesamt war der Workshop eine wertvolle Bereicherung, die mir nicht nur neue fachliche Impulse gegeben, sondern auch das Verständnis für die Lebenswelt meiner Teilnehmenden vertieft hat.

Maria Schlei